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Aus „Gras unter meinen Füßen – Eine ungewöhnliche Einführung in die Gestalttherapie“ von Bruno-Paul de Roeck

Sara und Rebecka wohnten in Zimmern übereinander und hatten beide sehr viel Kummer. Eines Tages begegneten sie sich auf der Treppe. Sie verstanden einander sofort und … sie begriffen, dass man nicht ständig seinen Kummer hinunterschlucken kann.

Seitdem hat Rebecka, die oben wohnt, siebzehn Fläschchen auf dem Kaminsims stehen, um darein die Tränen weinen zu können. Jedes Fläschchen hat einen Aufkleber. Auf dem einen steht: „Weil meine Eltern mich nicht haben studieren lassen“. Auf dem zweiten: „Weil mein Mann mich verlassen hat“. Auf dem Dritten: „Weil ich so alleine bin“ usw, siebzehn Fläschchen in einer Reihe.

Sara, die unten wohnt, hat seitdem eine Flasche stehen mit der Aufschrift: Tränen. Nach neun Monaten begegnen sie sich wieder einmal auf der Treppe und setzen natürlich ihr Gespräch fort: „Wie steht es mit deinem Kummer?“
„Es war eine ganze Menge“, sagt Sara, „meine Flasche ist ganz voll. Welch eine Erleichterung!“
„Meine siebzehn Fläschchen sind noch trocken“, sagt Rebecka. „Wenn ich merke, dass mir die Tränen kommen, versuche ich gleich festzustellen, warum ich weinen muss, damit ich weiß, in welches Fläschchen sie gehören. Aber wenn ich das richtige „Weil“ und die dazugehörige Flasche „im Auge habe“, ist weit und breit keine Träne mehr vorhanden.“

(Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2013)